Patient X

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Drei Schnitte. Zwei links und einer im Bauchnabel. Ich wache nach der Operation in meinem Zimmer auf, das ich mir mit Maria, der kaputten Gebärmutter und Doris, dem Brustkrebs teile. In meiner Hand juckt der Zugang für die Infusionen, an meinen Beinen die Trombosenstrümpfe.

An meinem linken Beckenrand ein bleich gewischtes X, das sie mir vor der OP auf die Seite malen ließen, wo später das Vielleicht raus darf.

Bis ich das große X auf meinen Bauch zeichnen durfte, vergingen schon einige Kreuze in der Klinik. Weiblich? X, ledig, x, Ob ich rauche? X. Ob ich eine vorbelastete Krebsfamilie habe?, halbes x. Ob ich auf was allergisch sei? kein x. Kinderwunsch? Empörtes x. Ach ja, und beim x unten dann bitte unterschreiben, dann schieben sie mich in den OP. Kurz vor dem langen Schlaf fühle ich mir noch alles genau an – das blaue Hemdchen ohne Hinternstoff, die engen Strümpfe ohne Laufmaschen, der zu einer Unterhose zusammengebastelte Verband mit Einlage, die trotzige Infusion in meinem linken Unterarm. Alles juckt. Alles ist zu grell.

Im Halbschlaf sehe ich das fürchterliche Gestell, ein nach oben gekippter Frauenarztstuhl, über das sie später meine Beine ziehen werden, damit sie mich wie ein Hühnchen ausnehmen können. Ich kann mir weder vorstellen meine Beine in dem Winkel wie ein X zu spreizen, noch in dieser Stellung mit dem Kopf nach unten zu atmen. „Ich will das alles nicht mitkriegen“, gestehe ich den blau eingemummten Köpfen über mir. „Deshalb schlafe ich auch jetzt“, meint der Narkosearzt durch seinen Mundschutz und sagt zu meiner Verwunderung: „Und tschüss, gell?“ bevor mich die Narkose in die Ohnmacht reißt. Ich bin froh, wenigstens mit einem Lächeln über dem Hühnchengestell zu liegen. Haben die wahrscheinlich auch selten.

Beim Aufwachen macht es tatsächlich piep.piep.piep, wie man es man nur aus Filmen kennt, wenn der Herzschlag mitspielen muss. Ich brauche mich nicht großartig zu bewegen um mitzukriegen, dass mir alles wehtut, mein Unterleib mit Nähten und Schnitten voll ist und dass die Einlage in der Verbands-Unterhose doch einen Sinn hatte. Ob ich Schmerzen habe? x. Der gefühlt fünfjährige Pfleger schiebt mich zurück in das Zimmer meiner Verbündeten, meines Krebsteams im Basislager. Er freut sich aufs Ende seines Zivildienstes. Das arme Kind. Wahrscheinlich hat er noch nie ein Mädchen nackt sehen dürfen und schiebt nun reihenweise zerfetzte Unterleiber in ihre Zimmer zurück um ihnen dort die Windeln zu wechseln. Auf seinem Schild steht Fabian. Ich sage ihm, dass er meine Windeln nicht wechseln muss. Sein Kopf nimmt die Farbe seines Pickels an. Ich will ihm so gerne sagen, dass nicht alle unten so aussehen und dass er jetzt nicht Angst haben müsse. Aber was soll´s, hier im Krankenhaus haben wir alle Angst. Alle hier fürchten sich. Haben Sie Angst vor dem Eingriff?x.

Als Fabian geht und meine neue Windel auf den Nachttisch legt, bin ich noch nicht ganz wach. Doris auch nicht. Ihre Dränage hängt seitlich neben ihrer Brust und tropft den Eiter rein, damit die Wunde sauber bleibt. Wir bekommen Vanille-Pudding zur Seite gestellt. Er schmeckt nach nichts. Wie alles hier. Nur Styropor und Deckweiß, keine Keime zum Salzen der Gemüter. Alles hier steht still. Nie ist man sich seiner Sterblichkeit so sehr bewusst wie kurz nach der Narkose, zwischengelagert im Lazarett, jeder mit Schläuchen irgendwo an die Wand getackert. Draußen glüht der Christkindlmarkt, hier drinnen haben sie uns zwei Christbaumkugeln mit Tixo ans Fenster geklebt. Draußen der fettige Krapfen, drinnen der laktosefreie Pudding. Draußen der Herzschlag, drinnen das pie.piep.peip. Vor den Türen die Keime, hier im Zimmer das Deckweiß. Am Christkindlmarkt der Alkohol in den gierigen Mündern, bei uns auf einem Wattepad zum Desinfizieren. Draußen das Leben, drinnen der Tod.

Ich hebe mein taubenblaues, arschfreies Hemdchen: Drei Schnitte. An meinem rechten Handgelenk baumelt das Krankenhausarmband mit Zifferncode, das ich wahrscheinlich auch zur Not über den Supermarkttresen ziehen kann, wenn ich verloren gehe. Dort scheint dann auf, dass ich eine Zyste am Eierstock hatte, die nach Krebs riecht. Oder gerade noch nicht. Maria meint, sie will es noch rechtzeitig schaffen und ein Lichtwesen werden. Sie sagt, sie habe keine Zeit mehr. Schwester Kerstin bestimmt, sie gebe mir eine Infusion, dann werde alles „beeeser“ und kärntnert sich durch das tumorige Zimmer. Im Allgemeinen glauben ihr viele, dass sie diese wonnige Schwester sei, der eben vor gar nichts grause und die alles im „Griiief“habe.

Nur wer genauer hinsieht, merkt dass sie sich ebenso wenig für andere interessiert, wie die Christbaumkugel liebevoll an die Fenster geklebt wurde. Sie muss eben diese dicke, hetzige Schwester Kerstin sein, wie denn auch nicht? Sie hat eben diesen großen Hängebusen, ein vernarbtes Kartoffelnasengesicht, eigentlich keine Beine und auch sonst keine nennenswerten Körperteile. Doch, Ellenbogen hat sie. Die setzt sie auch ein, wenn sie sagt, „Schwester Steeefi und Pfleger Rooobat“, wären schon wieder zu spät gekommen und dass sie aber „eh nichts“ sage, sie sei ja nicht so. Ob uns die Christbamkugalan gefallen? Kein x.

„Schauma amol“, sagt sie, reibt sich die Wurstfinger und macht mir einen entwürdigenden Einlauf in den Arsch. „Mid am gonz am klon Schleichal“, wie sie meint. Danach muss ich so lange im Zimmer auf und ab gehen, bis ich aufs Klo kann – ich solle es ihr dann sagen. Sonst hätte sie noch ein Geheimmittel für mich, an „Pflaumensoooft“.

Die Ärzte laufen zur Visite im Pelikanschritt ins Zimmer. Schwester Kerstin verschränkt die Arme vor dem üppigen Brustkorb und weiß alles jetzt schon „beeeser“. Ohne sie gehe ja nichts. Sie meint später zu den Patienten, man dürfe das nicht sagen, aber die Ärzte wissen eigentlich nichts über die Patienten, sie hätte die meiste Arbeit – überhaupt von allen auf der Welt. Besonders sie. Aber sie sei ja ein Menschenfreund, stünde ja auch auf ihrem Schild. Immer nur für andere sei sie da gewesen, auch wenn man als Patient nur zuhören darf in ihrem Monolog darüber, dass sie immer nur zuhöre. Wir nicken in unseren Pudding, für alles andere fehlt uns die Kraft und die Laktose. Mein Einlauf wirkt, ich sage Schwester Kerstin Bescheid. Während ich vor ihr mein Innerstes entleere und vor Entwürdigung weine, sagt sie „lei lafn losn“.

Ich schleiche mich leer zurück unter die Decke. Doris versteht, klipst sich trotz fettiger Haare ihre Perlenohrringe an, benetzt ihren Hals mit Parfum und legt den Flakon auf mein Nachtkästchen, damit ich es ihr gleichtun kann. Ich träufle Parfum auf mein Handgelenk und verreibe es dankbar. Doris versteht. Die Pelikane ziehen endlich ab. Schwester Kerstin schimpft sich in ihr Schwesternzimmer zurück. Zuvor müssen wir aber noch entscheiden, was wir morgen essen wollen. Kerstin macht x-e bei Rindfleisch mit Kraut oder ersoffenen Tortellini – je nachdem. „Se miasat as eeesn vataln“.

Wir furzen uns danach in den Halbschlaf. Wer bei so einer Sache miteinander im Zimmer liegt, kennt keine menschlichen Grenzen mehr. Es braucht Monate im echten Leben um voreinander zu pinkeln. Gestern haben Doris und ich einander den Schambereich rasiert. Wir kennen uns einen halben Tag. Mehr braucht es nicht, wenn Krebs anklopft.

Ich schaue wieder auf meinen durch Jod hochorange gefärbten Petzner – Bauch. Drei Schnitte. Drei X-e. Doris´ auf der rechten Brust, meines auf der linken Zyste und Marias, in der Mitte des Bauches – so genau ist das nicht, wenn die ganze Gebärmutter abdankt. Sie hätte nie Kinder bekommen können, das sei eine Sehnsucht geblieben, wimmert sie, wie es nur alte Frauen können. Sie müsse es eben jetzt noch schaffen, mit den Lichtwesen, sie hätte sich schon informiert, aber mit knapp 75 Jahren sei das nicht mehr so leicht mit der fünften Dimension.

Maria wimmert noch lange mit ihrem Jesuskreuz in den Händen, das sie genau über dem gemalten X auf ihrem Bauch platziert. Doris und ich prosten uns mit der blauen Pille zu, die uns beim Schlafen helfen soll. Draußen schneit es, drinnen ist auch so alles weiß. Doris sagt, es werde jetzt schon alles gut gehen mit uns und legt sich mit ihren Perlenohrringen in ihr Kissen zurück. Sie müsse noch so viel erledigen und überhaupt die Kinder und wer denn die Kekse backen solle? Zu Weihnachten seien sie dieses Jahr schließlich alle bei ihr, sie habe die Einladungen schon geschrieben und es haben auch alle zugesagt. Früher als sonst. Wie es denn das gebe?

Gerade dieses Jahr fiel die Wahl nämlich auf den Truthahn. Ihr Sohn möge das Brustfleisch so gerne, ergänzt sie stolz während ihr das Blut aus ihrem eigenen Brustfleisch in die Dränage tropft. Als ich sie frage, ob sie Angst vor dem Tod hätte, meint sie dafür hätte sie keine Zeit. Als ich sie frage, ob sie sich schlecht fühle erwidert sie, sie hätte lange nicht mehr so viel Freizeit gehabt. Doris überkreuzt die Beine und holt sich eine antike Brigitte vom Nachttisch. Die wollte sie immer schon mal lesen, und ob ich wisse, dass da Schnittmuster für Hosen drinnen seien? Sie wollte ja immer, als sie so jung war wie ich, nähen lernen aber dann kam eben„der Bua“, der nur Brustfleisch will. Maria wimmert. Doris schläft mit der gefalteten Zeitschrift über ihrer Brust ein. Ich schaue noch lange abwechselnd auf ihre Ohrringe und ihre Därnage. Dann schlafen wir alle.

Am Morgen kommt Kerstin zurück und bringt Trombosenspritzen. Anordnung von Oben, meint sie mit einer Hand auf der Hüfte eisern die Spritze schnippend, sie persönlich fände ja die „Striiimpf“ genug. Wir nicken wieder in unseren neuen Vanille-Pudding, den uns Fabian gebracht hat. Ob wir denn auch brav Stuhlgang hatten?x.

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