Empire Stage of Mind

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Als ich endlich im großen Jumbojet nach New York saß und die Turbinen kreischten, war ich mir eigentlich relativ sicher, dass ich kläglich über dem Atlantik verende. Und wenn ich schon nicht mein Schicksal am Meeresgrund finde, würde ich spätestens in Harlem überfallen, erstochen und/oder ausgeraubt.

Zumindest stellte ich mir das so vor, als kleines Mädchen in der großen Stadt, von welcher jeder immer nur in Superlativen spricht und sie als der ultimative Ort am Puls der Zeit anpreist, wo die Uhren ganz anders ticken – und das nicht nur wegen der Zeitverschiebung.

Schon bald überquerte ich nach sicherer Landung am JFK die Brooklyn Bridge und fuhr mitten in das Skyline Gebirge Manhattans hinein, das man ja aus so vielen Filmen kennt. Dennoch wirkte es nie unechter als in diesem Moment. Selbst mittendrin in den tiefen Schluchten zwischen den Hochhäusern glaubt man nicht, dass das alles real und zum Anfassen sein soll. Das Empire State Building besteht aus Pappe – ist man sich sicher – und in den Gebäuden der Wall Street befinde sich lediglich Styropor. Außerdem arbeiteten die tausenden Menschen, die im Sekundentakt aus den Subway –Stations gespien werden, eh nur als bezahlte Statisten.

Diese Statisten joggen zu jeder Tageszeit, essen irre viel Brokkoli, zahlen einen Kaffee mit Kreditkarte und stellen sich brav hintereinander in Schlangen an. Steht man inmitten dieser Szenerie, im Herzen der Deko – dem Times Square – mitsamt seinen tausenden, schwindelerregenden Billboards, Screens und schreienden Taxis, spürt man erst richtig den Puls dieser Stadt, die Hektik und den Hunger. Unvermittelt summt man den Jay Z & Alicia Keys Klassiker „Empire State of mind“ und bestellt sich einen Bagel mit Frischkäse, den man sofort wieder erbrechen muss, weil Frischkäse am großen Apfel mehr Fett enthält als ein europäischer Magen ertragen kann. Eine Szene später stehst du plötzlich in dieser Playmobilstadt in Chinatown in einer Karaokebar und fragst dich, wer hier auf einmal Peking hergezaubert hat. Alles ist zu viel, zu fett, zu groß, zu freundlich.

Die ganze Kulisse wirkt einfach zu gigantisch und komplex, als das sie echt sein könnte. Fast gephotoshopped . Die Leute begegnen dir im Gegenzug viel zu freundlich, als das sie kein Drehbuch gehabt hätten. Statt einem einfachen Hallo wird man auf dieser Bühne allerseits mit „How are you doing“ beschallt. Selbst mitten in Vororten von Slums in der Nähe Brooklyns, wo du eigentlich schon beim Durchgehen vor lauter Angst einen Durchfall bekommst, begegnen dir die Leute so höflich, dass du irritiert auf den Haken an der Sache wartest.

Stattdessen stehst du aber im nächsten Akt in einer U-Bahn Station, die dir deine Eltern sofort verboten hätten und wirst wie im Drehbuch von einer zwielichtigen Dame anvisiert. Doch während du in Panik bereits deinen Pfefferspray umgreifst, bereit bist ihr all dein Geld zu geben und dir deinen Text überlegst, fragt sie dich sanft ob du dich etwa verlaufen hättest und obendrein ein Pflaster brauchst, sie hätte deine Blase am Fuß gesehen.

Darauf kann man einfach nur noch mit einem stummen, offenen Mund antworten, genau wie man auf alles in dieser Stadt nur mit offenem Mund antworten kann. Vielleicht ist das so, weil hier alle fremd sind. Irgendwann ist jeder mal zugewandert. „Den“ New Yorker gibt es nur als Zeitung. Alle reisten einst als Laien zu diesem Broadway, der größten Bühne der Welt, und schlüpften in ihre Rolle als New Yorker. Was auch immer das heißen mag.

Wieder sitze ich im Jumbojet auf dem Weg nachhause, tausche die Gebirge aus Hochhäusern mit den Alpen und U-Bahnen mit Fußgängerzonen. Irgendwo wird hinter mir das Bühnenbild abgebaut, der Brokkoli verstaut, die Subways gestoppt und die Skyline zusammengefaltet. Wie sagte Shakespeare einst? „All the world´s a stage, and all the men and women merely players“.

Trotzdem: Man verzeiht dieser Stadt alles. Selbst, dass man sie nicht begreifen kann. Aus den Kopfhörern dröhnt der Song „Leaving New York“ von R.E.M gegen die Turbinen an, als hätte es der Playmobil-Pilot so geplant. Hinter mir erlöschen langsam die Lichter der Papp-Skyline. Ihr Anblick macht Heimweh. R.E.M singt pünktlich „Leaving New York never easy – I saw the light fading out“. Ich schließe die Augen und wache erst wieder auf, als für die Landung des Piloten geklatscht wird. Zu Recht. Es war eine tolle Vorstellung.

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